Die Insel der Puppen

Ich schaue auf die Uhr, es ist 4:22h. Ich rolle mich kurz aus dem Bett ins Bad und versuche weiter zu schlafen. Leider hat mein Zimmernachbar sich während ich bereits träume ebenfalls hingelegt und sägt nun mit hoher Dezibelzahl kontinuierlich vor sich hin. Einschlafen ist undenkbar! Ich pule meine Ohrstöpsel aus meinem Koffer und verstopfe meine Ohren. Dies noch mit der selbstverständlichen Bemühung mein Gegenüber nicht zu wecken, so ist das nun mal im Mehrbettzimmer. Die Ohrstöpsel können gegen den Lärmpegel hier im Zimmer nichts ausrichten. Die Schnarchgeräusche gehen munter und gleichmässig weiter.

Durch Meditationsübungen versuche ich meine innere Mitte zu finden und damit auch etwas Schlaf. Ich konzentriere mich auf meinen Atem, doch der frühe Tag hat anderes mit mir vor. Ich beginne zu lesen. Diesmal mit weit weniger Rücksichtnahme, wie ich eingestehen muss. Ich steh auf und knipse einfach das Licht an. Immerhin der Schnarcher schläft weiter, ein ganzer Wald wird in unserem Zimmer abgeholzt heute Nacht.

Irgendwann gebe ich selbst das Lesen auf und packe meine Sachen, um mich anzuziehen. Jetzt erwacht der Herr im Bett gegenüber und schaut mich vorwurfsvoll an, genauso anklagend schaue ich zurück.

Echt typisch für Schnarcher, den anderen die Nächte klauen und dann auf die eigene Rücksichtnahme pochen. Jeder der schon mit einem Schnarcher liiert war, weiß wovon ich spreche. Während man selbst nach ein paar Nächten total fertig ist, schläft der andere wie ein Baby. So sägen sie munter weiter an der Beziehung, klauen ihrem Partner den Schlaf und beschweren sich über nächtliche Ellbogenstöße, weil die monotone Gleichmäßigkeit des Schnarchens doch eigentlich einschläfernd auf den Partner wirken müsste.

In dieses Thema kann ich mich etwas Hineinsteigern, das gebe ich zu. Deshalb macht es mir auch nichts, dass ich noch zweimal in das Hostelzimmer zurück muss. Das Licht lasse ich einfach an, das soll der Holzfäller selbst ausmachen. Tut er auch und murmelt ärgerlich vor sich hin. In Dokumentationen wird Schlafentzug oft gegen Regierungsfeinde als Foltermethode dargestellt, um bestimmte Informationen zu erhalten, sicher auch in Mexiko. Das die Revolution bereits vorbei ist, weiß der Typ in meinem Zimmer wohl noch nicht.

Die Rastlosigkeit treibt mich nach draußen, es ist fast 6 Uhr. Auf dem Weg zum Cafe El Popular, eine Empfehlung des Mitarbeiters an der Rezeption, schaue ich durch die Fenster der Banco de Mexico. Ein Obdachloser liegt dort zusammengerollt in einer zerlöcherten Decke. Der Vorraum der Bank bietet etwas Schutz, auch in Mexiko City ist es morgens frisch. An der nächsten Ecke liegt ein weiterer Mann im Schmutz der Strasse. Schlimm wie viele Menschen hier wirklich nichts haben. Dazwischen diese ganzen Prachtbauten, ein herber Kontrast. Aber auch das gehört zu Mexiko City, genauso wie die Luftverschmutzung, die Schuhputzer oder Frida Kahlo.

Trotz ihrer Lebensumstände sind die Menschen von einer freundlichen und hilfsbereiten Art mit einem ehrlichen Interesse an Fremden. Das fasziniert mich, woher kommt die Fröhlichkeit, wenn man praktisch nichts hat?

Im Cafe El Popular tragen die Bedienungen pinke Uniformen mit aufgesticktem Logo, der Laden besteht bereits seit 1948. Ich schlürfe meinen Cafe Americano, dann einen zweiten. Pünktlich bin ich zum Frühstück im Hostel zurück, neben mich setzt sich ein Mann mit Halbglatze, ein paar Haare von den Seiten kunstvoll über die Platte gekämmt.

„Was für ein wundervoller Tag.“ er beginnt sogleich zu erzählen. Das finde ich auch, ich komme ja gerade von draußen. Jetzt fühlt er sich bestätigt weiter auszuholen: „Jeder Tag, den ich erleben darf ist wundervoll. Jeden Morgen bete ich zu Gott, dann sehe ich aus dem Fenster und freue mich auf den schönen Tag.“ Eigentlich ist er Holländer und ist als Missionar zuerst nach Spanien und dann nach Mexiko beordert worden. Er lebt seit über 20 Jahren hier und ist seit zwölf verheiratet, seine Frau ist Mexikanerin.

„Die Leute hier sind viel netter als in Europa und das Essen ist so viel besser. Ich habe eine großartige Frau zu Hause, nie wieder würde ich nach Europa zurück gehen. Meine Rente erhalte ich in Euro, mir geht es hier sehr gut.“ nuschelt er neben dem Essen.“Und das Wetter ist sonniger.“ Ja, das Wetter passt mir in Europa auch nicht, denke ich. Aber was ist mit dem Gesundheitssystem in Mexiko? Jemand ruft meinen Namen, ich muss zum Treffpunkt für meinen Ausflug. Als Antwort auf meine Frage lächelt der Holländer mir zu. Im Weggehen sehe ich, dass ihm vier Vorderzähne fehlen.

Erster Programmpunkt des Tagestrips ist Coyacan, am zentralen Platz des Stadtteils steigen wir aus dem Minibus. Es folgt ein kleiner Rundgang durch das Stadtviertel mit Besichtigung der schönen Kirche Parroquia de San Baptista. Wieder zeigt sich der starke Kontrast zwischen den Armen, die in den Straßen betteln, den vielen Obdachlosen und der überbordenden Pracht der Kirchen. Diese sind mit soviel Gold ausgestattet, dass man beim Betreten beinahe geblendet wird.

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Meine Reisegruppe besteht aus einem älteren russischen Pärchen plus Enkeltochter aus New York, zwei australischen Freundinnen, einer quirligen jungen Frau aus Los Angeles und einer Familie mit drei Kindern aus Guatemala. Ein kurzer Fußmarsch bringt uns zum Museum von Frida Kahlo. Eine Menschenschlange windet sich um das komplette Gebäude, fast um den ganzen Block. Da müssen wir uns doch hoffentlich nicht anstellen? Wir müssen.

Ein Sturm der Empörung bricht unter den Mitreisenden los, der Eintritt ins Museum war im Ausflugspreis erhalten. Es herrscht völliges Unverständnis, dass man jetzt noch warten muss. Eine Welle von Beschwerden prasselt auf Alberto unseren Reiseführer nieder, besonders die junge Amerikanerin meckert ihm entgegen: „Das ist der schlechteste Ausflug jemals, ein totales Desaster.“

Obwohl mir während des Ausflugs bereits aufgefallen ist, dass viele Ausführungen von Alberto frei erfunden sind, ich hatte im Vorfeld im Lonely Planet nachgelesen, tut er mir jetzt fast leid. Er fühlt sich sichtlich unwohl in seiner Haut, wie ein geschlagener Welpe sieht er aus und gibt letztlich klein bei. „Es war so geplant, dass unser Busfahrer während unseres Spaziergangs die Karten für das Museum kauft.“ verrät er.“Momentan sind Ferien, deshalb ist das Museum überlaufen.“

Naja, wir waren zwei Stunden spazieren, der Busfahrer war wahrscheinlich erstmal Kaffee trinken bevor er sich in die Schlange gereiht hat. Ich sage nichts, Albertos Erklärung besänftigt niemanden, die Empörung der anderen ist schon groß genug. Ich unterhalte mich mit der jungen Amerikanerin aus Los Angeles, die gerade erzählt, dass sie die letzten Jahre wie die Russen in New York gewohnt hat. „Warum bist Du nach Los Angeles zurück?“ frage ich sie. „Ich habe für Donald Trump gearbeitet, inzwischen supporte ich ihn nicht mehr, da habe ich gekündigt.“ sie antwortet mir knapp und die Info reicht mir auch.

Wir warten zwei Stunden, Alberto rennt wieder auf uns zu, die Hände am Kopf. Das Haare raufen ist allerdings nur Ausdruck seiner Überforderung und Verzweiflung. Die Karten sind nicht ausverkauft, wie jeder erst dachte, wir dürfen endlich das Museum besichtigen.

Andächtig betrete ich das Haus, in dem Frida Kahlo bis zu Ihrem Tod mit Ihrem Ehemann Diego Riviera gewohnt hat. Die Wohnung des Paares ist wie zu Lebzeiten belassen und komplett ausgestattet. Ich betrachte die Fotografien, den Rollstuhl, die Korsetts. Wie kann eine Frau, die seit Ihrem 9 Lebensjahr unter so großen Schmerzen litt, ein so lebendiger und kreativer Mensch sein? Fridas ungebrochener Lebenswille und die unermüdliche Schaffenskraft, die sich auch von Lähmung und Bettlägerigkeit nicht aufhalten ließen, flössen mir größten Respekt ein.

Aufgehört zu malen hat sie nie. Im Gegenteil, Frida lenkt Ihre Schicksalsschläge in Ihre Bilder, durch die Malerei öffnet sie ihr tiefstes Empfinden der ganzen Welt. Fridas Werke leben auf anschauliche Weise durch ihre Qualen, ein Blick in das Innerste dieser berühmten Frau. Im Zusammenleben mit Diego hat sie niemals ihrem Schmerz Ausdruck verliehen oder gejammert. Ich verstehe, warum das Museum um Frida Kahlo so überfüllt ist. Die Faszination , die ihr Leben und Werk auslöst erfasst auch mich.

Als unsere Reisegruppe wieder zusammen findet haben uns sowohl die Australierinnen, als auch die ehemalige Trumpp-Mitarbeiterin verlassen. Die Wartezeit war gemessen an der westlichen Hektik einfach zu lange, nach mexikanischen Zeitempfinden liegen wir wahrscheinlich voll im Plan.

In Xochimilco steigen wir in ein trajinera, so heißen die Flöße hier. Dieser Stadteil von Mexico City ist für seine vielen Kanäle bekannt. Während unserer Fahrt kaufen wir von den kleineren Booten um uns ein typisch mexikanisches Abendessen. Kaum zu glauben, was alles in die kleinen Schiffchen passt, der komplette Tisch ist gedeckt. Echtes Geschirr steht vor uns, eine Tischdecke liegt plötzlich auf dem Tisch. Auf einer heißen Platte an Bord des Bootes wird Rindfleisch zubereitet, dazu gibt es Tortillas, Avocado und Peperoni. Alles spielt sich auf dem Wasser ab. Rings um uns Kanus, die Waren verkaufen: Spielzeug, Blumenkränze, Ponchos, Halstücher.

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Mit einem langen Holzstab steuert unser Bootsführer das Floss, einen anderen Antrieb gibt es nicht. Vorbei an der Insel de las muencas, unzählige Puppen und Kuscheltiere mit deformierten oder fehlenden Gliedmaßen hängen in den Bäumen. Durch Witterung und Regen sind sie schmutzig und verkommen. Die Atmosphäre ist gruselig, es schaudert mich. Ins Leben gerufen wurde dieses Projekt von einem früheren Inselbewohner. Er fischte Spielwaren aus den Kanälen und befestigte diese in den Bäumen, um eines kleinen Mädchens zu gedenken, das in der Nähe ertrunken ist.

Um die surreale Stimmung zu vertreiben holen wir uns eine Mariachiband ins Boot. Für ein paar Pesos spielen sie ihre fröhlichen Lieder. Zum Abschied gibt’s für den Steuermann ein kleines Trinkgeld für die anstrengende Arbeit.

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Wir besichtigen die Universität von Mexico City, einen Riesenkomplex mit 280.000 Studenten. 31.000 Professoren unterrichten hier, die größte Universität in Zentralamerika. Eigentlich eine in sich geschlossene kleine Stadt. Die aufwendigen Motive der Gebäude verbinden die Geschichte Mexikos mit den Studien der Universität.

Ich unterhalte mich mit dem russischen Großvater, der sich zusammen mit Frau und Enkelin ebenfalls für den Ausflug entschieden hat. Er hat lange in Peking gelebt und spricht fließend chinesisch. Für eine russische Firma hatte er eine Position im Handel mit China, er mag die chinesische Mentalität, das Essen und die Kultur. Sein Sohn arbeitet jetzt bei Google in New York, daher haben er und seine Frau ein Haus in Brooklyn gekauft. In Moskau lebt seine Tochter, dort haben sie auch eine Wohnung.

Der Einfluss der russischen Eltern auf das Leben ihrer Kinder ist, auch wenn diese bereits erwachsen sind, sehr groß. Dies ist in diesem Fall von beiden Seiten gewollt. Die Großeltern pendeln daher ständig zwischen New York und Moskau, um am Leben der Kinder und Enkel teilzuhaben. Am liebsten mögen sie Moskau, Amerika ist langweilig, das Land ist zu jung und hat keine Geschichte.

Seine Frau erzählt währenddessen mit unserem Reiseführer. In der Universität kennt Alberto sich gut aus, er studiert hier selbst Wirtschaftswissenschaften, sein Vater ist hier Professor. Alberto ist erst seit zwei Tagen Reiseführer, das ändert die Sichtweise der Gruppe enorm, hätte er das mal lieber früher erwähnt.

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Auf dem Weg zurück in die Innenstadt beunruhigt mich das hohe Verkehrsaufkommen. Wie soll ich so den Nachtbus nach San Cristobal de las Casas bekommen? Ich renne ins Hostel, schnappe meinen Koffer und flitze zur Metrostation. Es gibt separate Wagons, die Frauen und Kindern unter 12 vorbehalten sind, die Eintrittsbereiche sind abgetrennt und werden vom Sicherheitsdienst bewacht. Ich setze mich in das Frauenabteil und fühle mich ziemlich sicher. Nur aufgebretzelte Mädels, Frauen mit Kindern und Omis.

Am Busbahnhof finde ich den Ticketschalter sofort. „Es gibt keine freien Plätze mehr, erst morgen um 13h.“ Erschrocken frage ich nochmal nach, ich habe richtig verstanden. Damit habe ich nicht gerechnet. „Alle Buse nach Chiapas sind voll“ erhalte ich die ernüchternde Antwort. „Bitte! Ich muss mit!“ eindringlich blicke ich die junge Mexikanerin hinter dem Schalter an. Sie sieht mir meine Verzweiflung an oder ist genervt von meiner penetranten Art.“Hier rechts ist noch ein Schalter, fragen Sie dort nach.“ gibt sie mir einen Tip. Ich rase los und der Gang nach rechts lohnt sich tatsächlich, ich muss zwar Umsteigen, komme aber bis zum nächsten Morgen an mein Ziel.

Um 22:00h steige ich in den Bus und meine Erwartung sinkt gegen null. In vielen 1. Klasse Busen in Zentral- und Südamerika lässt sich der Sitz fast horizontal einstellen wie ein richtiges Bett. Oder es gibt zumindest Fusslehnen zum Umklappen, um die Beine ab den Knien bequemer abzulegen. Dieser Bus bietet nichts dergleichen, ich kann den Sitz nach hinten klappen. Nachdem der Tag so früh begonnen hatte schlafe ich rasch ein, ein glücklicher Umstand, die Fahrt nach Coatzacoalcos dauert 9 Stunden. Insgeheim muss ich dem Schnarcher also danken.


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