Eine junge Mutter sitzt mir in der Fähre zur Insel Spiekeroog gegenüber. Ihr kleiner Sohn hat sich beim Fahrradfahren den Arm gebrochen. ‚Um zum Krankenhaus zu gelangen muss ich einen halben Tag einplanen.‘ erklärt sie mir, als ich nachfrage. ‚Auf Spiekeroog gibt es nur einen Allgemeinmediziner, wir haben noch nicht mal einen Zahnarzt. Seit mein Sohn laufen kann ist es aber viel einfacher. Mit dem Kinderwagen früher glich der Arztbesuch einer Weltreise.‘ Sie hat heute viele Stunden gebraucht um zum Arzt und zurückzukommen. Für mich ist das unvorstellbar. Allerdings leben auf Spiekeroog nur ca. 700 Einwohner. So klein, dass ich die Insel durch einen Tagesausflug mit dem Touristenboot erkunden möchte. ‚Und wenn sie mal in Urlaub fahren wollen?‘ erkundige ich mich neugierig weiter. ‚Wir fliegen dann von Bremen und buchen am Vorabend der Reise in der Nähe des Flughafens eine Übernachtungsmöglichkeit. An einem Tag ist das nicht zu schaffen. Meine Schwiegereltern leben aber in Duisburg. Oft übernachten wir bei Ihnen und fliegen dann ab Düsseldorf. Die Zugreise dorthin ist für uns günstiger als die Übernachtung in Bremen.‘ Unsere Fähre legt an. Vom Hafen führt ein Spazierweg zum Marktplatz.
Das gesamte Eiland ist absolut autofrei. Jetzt im Winter fährt auch die nostalgische Pferdebahn nicht. Im Sommer verbindet diese den zierlichen Bahnhof mit dem Westend der Insel. Es gibt so gut wie kein Transportmittel hier. Auch Fahrrad fahren ist nur eingeschränkt in den Dorfstraßen erlaubt. Spiekeroog ist die Grünste der Ostfriesischen Inseln und besitzt eine ruhige und dörfliche Idylle. Ich setze mich in ein Café. ‚Dein Kaffee läuft schon durch.‘ sagt die Bedienung zu einem der einheimischen Gäste. ‚Ach sehr gut, danke.‘ der Mann nickt erfreut. ‚Und wie war Dein Wochenende?‘ fährt er fort. ‚Schön!‘ sagt die junge Frau knapp. ‚Ist ja angenehmes Wetter momentan.‘ Ich blicke aus dem Fenster. Es ist denkbar kühl und vom Meer weht eine frische Brise. Ohne dicke Jacke wäre es mir draußen zu kalt. Aber immerhin stürmen keine starken Böen. Die Servicekraft stellt die dampfende Tasse vor ihrem Gast ab. ‚Hätte bisschen mehr regnen können.‘ gibt dieser seine Meinung zum Besten. Er nimmt den ersten Schluck des heißen Getränks. ‚Wir wünschen uns halt immer, was alle anderen nicht wollen.‘ Sie lächelt. Die Insulaner beurteilen das Wetter anders als die Touristen. Aber sie leben ja auch das ganze Jahr hier und ohne Regen gibt es keine Süßwasserversorgung. Dieses sammelt sich nämlich unter der Insel in einer Linse und sichert den Vorrat an Trinkwasser.
Das Caféhaus, in dem ich sitze, liegt im ältesten Teil des Dorfes der Insel. Das früheste Haus wurde hier bereits 1705 erbaut und besitzt noch ein abnehmbares Schwimmdach. Dieses hatte früher die Funktion eines Rettungsfloßes. Bei Sturmfluten konnte man es vom unteren Teil des Gebäudes ausklinken und mit den Hausbewohnern auf dem Wasser treiben. In der Nähe des Cafés befindet sich das Kuriose Muschelmuseum von Spiekeroog. Allerdings ist auf dem überschaubaren Inselchen so ziemlich alles nicht weit voneinander entfernt. In der besonderen Museumsausstellung tragen die gezeigten Muscheln statt wissenschaftlicher Bezeichnungen erfundene, fantasievolle Namen, die etwas mit dem Aussehen des gezeigten Strandgutes zu tun haben. Über 4.000 gesammelte Exponate werden hier gezeigt. Eigentlich alles Abfall in Form von ausgedienten Muschelschalen. Die Ausstellungsstücke sind ‚Hinterlassenschaften‘ von Meeresmuscheln und Seeschnecken. In jeder Sekunde werden weltweit Millionen dieser Tiere von Fischen, Vögeln, Seesternen, Krebsen und Seeottern gefressen. Und wir Menschen essen ja seit Jahrtausenden ebenfalls Muscheln. Mit Weißwein oder Tomatensauce sind die auch richtig lecker.
Die Abfallberge hiervon sind unvorstellbar: Allein 1.000 Fischerfamilien hinterlassen schon fast 4.000.000 Gehäuse jährlich, wenn jede nur 10 Muscheln pro Tag verzehrt. Zudem bleiben Muscheln und Schnecken beim täglichen Fischfang als mitgetöteter Beifang in den Schleppnetzen hängen. Etwa 3 Pfund pro gefangenem Pfund Fische oder Krabben. Und bei den Muscheln, die an Altersschwäche sterben bleibt zusätzlich ein Gehäuse zurück. Bisher sind über 120.000 Arten bekannt und regelmäßig werden neue, seltene entdeckt. Sammler und wissenschaftliche Museen zahlen für Raritäten 4.000 Euro und mehr. Dem Museum in Spiekeroog ist das fremd. Hier sind nur häufige Arten ausgestellt, die massenhaft vorkommen. Die meisten sind aus Süd-Ost-Asien, weil dort der weltweite Muschelverzehr und Schalenanfall am höchsten ist. Lebende Funde wurden beim Sammeln immer wieder ins Meer geworfen, nur leere Hülsen werden gezeigt. Alle noch so grellen Farben sind echt und aus der Natur. Trotzdem sind keine zwei der Exponate mit den lustigen Namen einander genau gleich. Dies ist sicher das Besondere an diesem Museum im Vergleich zu einer langweiligen Briefmarken- oder Münzsammlung.
Ich fühle mich wohl und muss besonders über die politisch angehauchten Muschelnamen lächeln. Ich schlendere an den Glasscheiben vorbei hinter denen sowohl die Republikaner, die Jusos als auch die schwarz-grüne Utopie ausliegen. Die erfundenen, einfallsreichen und amüsanten Namen sind viel besser als die langweiligen lateinischen Gattungsbezeichnungen. Gerade die Bezeichnungen Mitfahrzentrale, Fußpilz oder Zierkürbis haben sich eingeprägt und ich habe diese auch nach dem Museumsbesuch nicht vergessen. Manchmal muss ich etwas genauer hinsehen, um die verrückten Namen nachzuvollziehen. Mir fallen andere skurrile, scherzhafte Bezeichnungen ein, die ich irgendwie treffender finde. Absolut ein Museum zum Schmunzeln und eine tolle Art weggeworfene oder leere Muschelschalen und Schneckenhäuser zu verwenden. Ich sehne mich nach einem langen Strandspaziergang. Dabei macht es sicher richtig Spaß, sich an die kuriosen Namen zu erinnern. Natürlich werde ich dann selbst Muscheln im feinen Sand suchen. Auf meine eigenen ungewöhnlichen, wunderlichen und komischen Bezeichnungen bin ich selbst schon gespannt.