Ich ziehe die Autotür auf und werfe den Koffer meiner Mutter auf den Rücksitz. Dieses Wochenende verbringen wir zusammen in der schönen Schweiz. Der Himmel liegt in einem schattigen Hellgrau. Es wird bald anfangen zu regnen. Während der Fahrt nach Bern erzählt mir meine Mutter von ihren neuen Nachbarn. ‚Die Rauchen so süßlich duftendes Zeug. Ständig. Ich kann mich garnicht mehr auf meinen Balkon setzen, das benebelt mich immer so. Mir wird ganz schwummrig und ich schlafe dann sogar ein. Da ist auch ein Kind in der Wohnung, das geht doch nicht.‘ Ich grinse. Mit Marihuana hatte meine Mutter noch nie Kontakt. Zumindest bis die neuen Mieter eingezogen sind. ‚Das stinkt auch im Flur in der ganzen Etage.‘ fügt meine Mutter entrüstet hinzu. Sie sieht mich an. Das Unverständnis zaubert eine kleine Falte zwischen ihre Augenbrauen.
Die Landschaft, die uns umgibt ist wunderschön. Wie ein felsiger Gürtel umrahmen die Berge die gesamte Schweiz am Horizont. Dahinter verliert sich das dämmrige Grau des Himmels in einem gehauchten Nebeltuch. In den Autoscheiben fliegen dunkelgrüne Wiesen mit Kühen an uns vorbei. Am späten Mittag erreichen wir Bern und schlendern durch die kleinen Gassen der Altstadt zu unserem Hotel. Zu beiden Seiten türmen sich die massiven, steinernen Häuserreihen mit kleinen Erkern und zierlichen Balkonen. Die Fronten dekorieren Flaggen mit Bären und dem weißen Kreuz auf rotem Grund. Sie geleiten uns als Empfangskomitee wie ein wehender, bunter Teppich bis zu unserer Unterkunft. Der Legende nach hat Stadtgründer Herzog Berchtold V. von Zähringen beschlossen die Stadt Bern nach dem ersten in den umliegenden Wäldern erlegten Tier zu benennen. Aus Bär wurde Bern. Deshalb ist das Tier das Wahrzeichen der schweizer Hauptstadt. Im Bärengraben besuchen wir Berns lebendige Stadtsymbole. Auf 6.000m2 haben sie am Rande der Innenstadt viel Auslauf zum Schwimmen, Fischen und Klettern.
In der Schweiz läuft die Zeit langsamer. Ohne Hektik spazieren Passanten an uns vorbei. Keine Drängelei oder lautes Hupen. Die Stunden stehen still. Die entspannte Haltung überträgt sich, ich verlangsame meinen Schritt. Gedanken der Ruhe bleiben zurück. Wir genießen den Moment, der Augenblick ist gegenwärtig. Von der Zytglogge spazieren wir von Brunnen zu Brunnen. Mit farbenfrohen Schnitzereien durchziehen und schmücken diese das komplette Zentrum. Auf jedem sieht man Meister Petz, die ganze Stadt ist gesprenkelt von Bären und Wasserspielen. In den Arkadengängen im Erdgeschoss der verwinkelten Häuser befinden sich Geschäfte und Cafes. Ebenso laden Läden und Kneipen in das Souterrain ein, den besonderen Charme der Kellerclubs verströmend. Wir nehmen uns Zeit und lassen uns durch die hübschen Straßen des alten Stadtzentrums treiben.
Dass es regnet, nimmt Bern nicht seinen Charme. Hell hebt sich das Grau der Häuser gegen die dunkle Schattierung der Regenwolken ab. Ich ziehe die Kapuze meines Mantels auf. Kontinuierlich hämmern die vom Himmel kommenden Tropfen auf den Stoff meiner Jacke. Feuchtigkeit und Kälte ziehen in meinen Kragen. Ich sehe mich nach meiner Mutter um. Sie hat Mühe die Mütze ihrer Jacke zu fassen. Hilfslos rudert sie mit den Händen nach hinten. Ich laufe auf sie zu, um ihr zu helfen. Da bückt sie sich schon nach vorn. Immer weiter neigt sich ihr Oberkörper nach Vorne. Bis die Kappe durch die Schwerkraft wie von selbst auf ihren Kopf fällt. Man muss sich nur zu helfen wissen. Mit einem begeisterten Lächeln genießen wir jedes Detail des mittelalterlichen Berns. Wir lassen den imposant aufragenden Bau des Rathauses ebenso auf uns wirken wie den in den Himmel strebenden Münsterturm.
Bern ist eine überschaubare Stadt, was durch die allgegenwärtige Langsamkeit in den Straßen noch untermalt wird. In der Nähe des Rathauses stossen wir auf einen Brunnen, vor dem eine große Metallleiter steht. ‚Geh mal hoch, ich mach ein Foto.‘ schlägt meine Mutter vor. Schon hält sie das Handy aufnahmebereit vors Gesicht. Entschlossen erklimme ich die eisernen Stufen. Ich setze Fuß vor Fuß. Fast fühle ich mich wie auf einem Rednerpult. Die Reisegruppe in unsrer Nähe bemerken weder meine Mutter noch ich. ‚Ich sage immer zur meinen Studenten, jeder von Euch kann die Stufen hochgehen. Aber dann müsst ihr auch auf jeden Fall etwas sagen. Sonst dürft ihr nicht mehr runter.‘ Der Reiseführer der Gruppe hat sich zu Wort gemeldet. Zwanzig Augen sehen mich erwartungsvoll an. Ich schlucke hastig.
Na klasse. Was sagen? Mir fällt jetzt nichts ein. ‚Sagen Sie doch was.‘ ruft eine Frau aus dem Pulk. ‚Mein Volk oder so.‘ Also das ja sicher nicht, denke ich. Und mit dieser Äußerung sind mir auch schon alle anderen Ansätze wie durch einen gedanklichen Windstoß verflogen. ‚Wo sind Sie denn her?‘ hilft mir schließlich der Stadtführer aus meiner Misere. ‚Aus Karlsruhe.‘ sage ich erleichtert. Immerhin: zwei Worte. Mit einem breiten Grinsen, empfängt mich meine Mutter. ‚Tolle Idee.‘ kommentiere ich missmutig. ‚Halleluja. Halleluja‘ schreit ein kleines Kind und rennt verfolgt von seinen Eltern an mir vorbei. ‚Ja Halleluja, das wäre es gewesen.‘ murmle ich gedankenverloren in mich hinein. Diese gute Idee hatte ich leider nicht.