Am Rande des Abgrunds entlang

Es ist erst 5 Uhr am Morgen. Fahrig reiben meine Finger den Schlaf aus meinen Augen. Ich stehe auf dem Gehsteig neben meinem Hostel in Las Vegas. Ein übergroßer Elvis winkt mir aus der Wedding Chapel gegenüber zu. Ich schmunzle. Meine größte Sorge vor der Reise nach Amerika war nach einer langen Nacht in der künstlichen Glitzerwelt von Las Vegas aufzuwachen und mit einem Elvis verheiratet zu sein. Oder überhaupt verheiratet. Die erste Nacht hatte ich überstanden und war immer noch ledig. ‚Hallo, was machst Du denn so früh auf der Straße?‘ die Frage lässt mich abrupt herumfahren. Ein junger Mann schaut mich an. ‚Ich warte auf den Bus, der mich zum Grand Canyon bringt.‘ Ich streiche nervös eine Haarsträhne aus der Stirn. Der Amerikaner ist kein Obdachloser, er hat keine Alkoholfahne und steht auch nicht unter Drogeneinfluss. Ich entspanne mich erleichtert. Die Plätze dieser Stadt sind voll von Menschen, die auf der Straße leben und definitiv psychische oder Suchtprobleme haben. ‚Ich brauche dringend einen Kaffee.‘ murmele ich müde. Nach 5 Stunden Schlaf umschlingt mich die letzte Nach immer noch mit eisernem Griff und die Müdigkeit ist unfähig mich freizugeben.

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‚Da drüben bei 7eleven?‘ der Zeigefinger des jungen Amerikaners deutet gezielt auf das rot-grüne Emblem des Supermarkts. Wir schlendern über die Straße und kaufen Kaffee. ‚Ich heiße John. Ich lebe nicht weit von hier.‘ stellt sich mein Gegenüber vor. Ich lasse mich im Innenhof meiner Unterkunft auf eine Holzbank nieder. John ist in meinem Alter und erzählt mir von Carla, der Liebe seines Lebens. Die beiden haben sich inzwischen getrennt. ‚Was war denn euer Problem?‘ frage ich neugierig und nippe an meinem Becher. Die heiße Flüssigkeit brennt sich in meine Lippen und macht mich lebendig. Johns Blick ist leer und nachdenklich. ‚Sie hat spanische Wurzeln und ist sehr temperamentvoll. Ich konnte damit garnicht umgehen und irgendwann haben wir nur noch gestritten.‘ Mein schnelles Kopfnicken zeigt, dass ich ihn verstehe. ‚Vielleicht wird es ja wieder.‘ schlage ich zaghaft vor. Unwirsch schüttelt er den Kopf. ‚Nein das ist vorbei.‘ Seine Offenheit freut mich. Ich kenne John ja erst seit 30 Minuten. ‚Mein größte Sorge war hier einen Elvis zu heiraten.‘ eröffne ich dann ehrlich mit entschlossener Stimme. Der junge Mann lächelt. ‚Willst Du heiraten?‘ schlägt er vor und deutet mit der rechten Hand auf die übergroße winkende Figur an der kleinen Heiratskapelle gegenüber. ‚Ich mag Deinen deutschen Akzent. Er ist zwar schwer zu verstehen, aber er gefällt mir gut.‘ Abwehrend hebe ich die Hand. ‚Nein, danke. Ich bin vergeben.‘ Ich dachte immer mein Englisch wäre gut. Aber vermutlich nicht um 6 Uhr morgens. Dann kommt der Bus. Fast verheiratet steige ich ein.

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Der rötliche Stein des Grand Canyons ist weithin sichtbar. Die vielen Rottöne reflektieren träge die Hitze. Fast greifbar scheinen die gelblichen Strahlen der Sonne vor dem felsigen Hintergrund. Wie ein nebliger Lichtteppich verhüllen diese die Gesteinsmassen. Vor der gigantischen Steinformation komme ich mir unglaublich winzig vor. Ich wage mich an den Abgrund heran und spähe in die Tiefe. Ich kann kaum atmen als ich in den Abgrund schaue. Stoßweise und hektisch hole ich Luft und trete einen Schritt zurück. Die völlige Weite gibt den Blick auf die roten Felsen frei. Mehr sehe ich auch nicht, nur die rötlichen Berge. Ihre Spitzen scheinen unsymmetrisch und abgehackt und sind dabei in ihrer Unvollkommenheit wunderschön und perfekt. Ein Geländer gibt es nicht. Vor den Naturgewalten muss ich mich selbst schützen. Ich halte soviel Abstand, dass ich mich persönlich in der steinernen Szenerie wohlfühle. Außer ein paar wagemutigen asiatischen Gästen, die augenblicklich jeden Moment abstürzen könnten, hält jeder Besucher Sicherheitsabstand zur Bergkante.

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Die bunte Glitzerwelt von Las Vegas wirkt wie eine Fata Morgana in der landschaftlich eher kargen Gegend. Beim Zurückfahren fällt mir erneut auf wie surreal das Auftauchen der ersten Häuser ist in der Wüste Nevadas. Es ist bereits Nachmittag und der Elvis gegenüber winkt immer noch. Fast 100.000 Paare heiraten jedes Jahr in Las Vegas, darunter ca. 2.000 Paare aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Auch hier muss man mind. 18 Jahre alt sein, um ohne Erlaubnis des Erziehungsberechtigten zu heiraten. Den Trauzeugen kann man von den vielen Hochzeitskapellen gleich im Paketpreis mit buchen. Gut dass ich hier nicht zum Spaß geheiratet hatte, die Ehe ist nämlich auf jeden Fall gültig, auch wenn man diese in Deutschland noch registrieren muss. Am Hotel Bellagio sehe ich mir die Wasserspiele an und bin begeistert. Im Takt von bekannten Liedern spritzen die Fontänen perfekt aufeinander abgestimmt in die Luft. Ebenso glänzen auf der Wasserfläche weiße Lichter und beleuchten die Wasserstrahlen von unten.

Zurück zum Hostel nehme ich den Bus. Es ist bereits stockfinster. Die Türme der Casinos leuchten in der Ferne und sprenkeln den dunklen Horizont mit bunten Blitzen. Immer wieder glänzen die farbigen Lampen in der schwarzen Nacht und erhellen kurz die Umgebung. Die Bushaltestelle befindet sich nicht weit vom Hotel entfernt. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite liegen einige Obdachlose auf dem Gehweg. In der Dunkelheit sehe ich lediglich ihre grauen Schemen, die wirre Laute von sich geben und mit ihren leeren Händen in die Luft greifen. Zu dieser fortgeschrittenen Stunde traue ich der Situation nicht ganz. Es sind nur ein paar Meter bis zum Hauptgebäude der Pension. Ich sehe meine Unterkunft durch eiserne Gitterstäbe. Unschlüssig rüttele ich an dem Tor. Die Straßen sind völlig finster und eher schlecht beleuchtet. Meine Füße tun mir weh und ich mache vorsichtig ein paar Schritte in der dämmrigen Umgebung. Ein Ende des Häuserblocks ist nicht in Sicht. Ich bin auf der falschen Seite des Hostels ausgestiegen. Ich hätte eine andere Buslinie nehmen sollen, die direkt vor der Tür des Hotels hält. ‚Blöder Mist.‘ fluche ich. Dann winke ich dem kleinen Chinesen aus meiner Zimmer auf der anderen Seite des Zauns zu. Er kommt zu mir.

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‚Kannst Du versuchen die Pforte zu öffnen?‘ bitte ich ihn. Das Gatter bewegt sich überhaupt nicht. Die Rezeption der Unterkunft ist um diese Uhrzeit nicht mehr besetzt. Einen Schlüssel werden wir also nicht bekommen. Kurz entschlossen setze ich den ersten Fuss auf die eiserne Klinke und ziehe mich mit den Oberarmen an der Tür nach oben. ‚Oh je. Sei vorsichtig! Tu Dir nicht weh!‘ ruft der Asiate entsetzt. Die Stäbe, die die Tür bilden stehen etwas nach oben ab. Allerdings sind diese stumpf. Was mir mehr zu schaffen macht, ist mein bodenlanges Kleid. Ich kremple mit der rechten Hand den Saum bis zum Oberschenkel nach Oben. Um über das Eisengitter zu kommen reicht es gerade so. Ich werfe dem jungen Mann meine Tasche zu, weil diese mich jetzt auch noch behindert. ‚Verdammt. Und wenn ich mich nackig machen muss.‘ fluche ich erneut. ‚Ich schaue auch weg.‘ versichert mir mein Zimmernachbar. Ich muss über meine eigene Situation lachen. Das nimmt mir für einen Moment die Kraft aus den Armen. Wie ein nasser Sack hänge ich auf dem Hoftor. Zum Glück ist es nicht nötig mich völlig zu entblößen. Mein zweites Bein schwingt sich über die Pforte und mit einem kleinen Sprung stehe ich wieder mit beiden Beinen fest im Hinterhof meiner Unterkunft. Für heute reicht es mir.


3 Gedanken zu “Am Rande des Abgrunds entlang

  1. Das war aber nicht der Chinese aus Hangover 2, oder? 😉 Aber mal im ernst: eine Stadt der völligen Kontraste, eine unwirkliche Welt der Märchen und Spiele mitten im Nichts und gescheiterte Existenzen inmitten von Überfluss. Ich war noch nie da, ist Ausgehen dort überhaupt bezahlbar?

    Lg Kasia

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    1. Hey Kasia, nee, das war nicht der Chinese. 😉 Man kann in den Casinos natürlich ziemlich viel Geld verlieren, ich habe aber nicht sehr viel gesetzt. In Diskotheken war ich nicht, ich kann nur das Essen im Restaurant und die Getränkepreise beurteilen. Im Grunde gibt es alles: von günstig und erschwinglich bis überteuert und luxuriös. Man muss sich nicht ruinieren um sich zu versorgen, aber dennoch ist alles etwas teurer als in Deutschland. LG Lisa

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