Hähnchen oder Fisch?

Verzweifelt schaut mich die junge Schaffnerin an. ‚Hähnchen oder Fisch?‘ wiederholt sie. Ich schüttele wie schon zuvor den Kopf und frage mich warum sie mir unbedingt etwas zu essen aufschwatzen will. Ich sitze auf meiner Pritsche im Nachtzug von Kiew nach Minsk. ‚Hähnchen oder Fisch?‘ die junge Ukrainerin klingt flehend. Hilflos wedelt sie mit ihren Händen in der Luft und versucht mir auf Russisch etwas zu erklären. Erfolglos. Ihre Bemühungen sind so merkwürdig eindringlich, dass mir langsam klar wird, Hähnchen oder Fisch sind wohl schon im Bahnpreis inkludiert. ‚Hähnchen.‘ schlage ich schließlich vor. Erleichtert lächelt die junge Frau und notiert sich etwas in kyrillischen Buchstaben. ‚Trinken.‘ meint sie dann und führt ein imaginäres Glas mit der Hand an den Mund. ‚Kaffee, Tee, Wasser.‘ ‚Kaffee.‘ sage ich. Trotz der Hitze der sommerlichen Junitage trägt die Bahnangestellte ein langärmeliges Jackett und eine Mütze mit Pelzbesatz an den Seiten. Das Emblem der Kappe zeigt ein ähnliches Zeichen wie Hammer und Sichel.

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Ein paar Minuten später bringt sie mir meinen Kaffee. Ein gläserner Becher umrahmt von einem kunstvollen Metalluntersatz, der sich in Form von Blättern und Blumenranken am gesamten Glas hochwindet. Der Kaffeesatz türmt sich 1 cm hoch vom Becherboden. Ob ich heute Nacht schlafen werde ist ungewiss. Nach einem kurzen Schluck weiß ich, das ist Osterkaffee. Dieses Gebräu erweckt Tote zum Leben. Auf dem Tisch zwischen den zwei Betten der Kabine stehen zahlreiche Fläschchen mit russischen Etiketten. Weißrussische Cola, Wasser, manches kann ich überhaupt nicht entziffern.  Und in einer zinnernen Vase ein paar rote Plastikrosen. Mit jedem Rattern des Zuges springt das gesamte Gedeck auf und ab. Ich hoffe, der Zugfahrer muss heute Nacht nicht bremsen. Dann werde ich unter einem Berg von Glasflaschen begraben. Die Ausstattung des Zuges spiegelt die sowjetischen Farben wieder. Blutrote Vorhänge, ein khakifarbener Teppich und mit mausgrauem Stoff überzogene Wände. So hatte ich mir die Zugfahrt vorgestellt.

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Ich lehne den Kopf an die gräulich farblosen Polster des Sitzes und schließe die Augen. Meine Füße tun weh. Ich ziehe die Turnschuhe aus und wackle mit den schmerzenden Zehen. Den ganzen Tag war ich durch Kiew gelaufen und hatte die zahlreichen bunten Kirchen bestaunt, die sich über die Stadt verteilen. Die Hauptstadt der Ukraine ist in manchen Stadteilen eine Ansammlung farbenfroher Häuser. Die bunte Vielfalt und der Sonnenschein an diesem herrlichen Sommertag tun der Seele gut. Dennoch hat der lange Spaziergang in der prallen Sonne mich erschöpft. Besonders schön ist die Sophienkathedrale, die zum Kulturerbe der Unesco gehört. Zahlreiche dekorative Fresken und Mosaiken sind in der ganzen Kirche zu finden. Im Süden von Kiew befindet sich ein Kloster, in dem man auch ein Höhlensystem darunter besichtigen kann. In den Höhlen befinden sich die Gräber der Mönche. Die Gänge sind furchtbar eng und ich musste mich dem Gehtempo der Touristen vor mir anpassen. In den bedrückenden Gängen und mit leicht gebücktem Gang schlich ich Stück für Stück voran. Immer bedacht meine eigene Komfortzone an Distanz zum Vordermann zu wahren.

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Ich besuche Kiew im Sommer 2011. Beim Spaziergang über den Meridanplatz sehe ich einen Auflauf von Demonstranten. Sie kämpfen für die Freilassung von Julija Tymoschenko. Eine Verurteilung wegen Amtsmissbrauchs brachte die ukrainische Politikerin 2011 in Haft. Die erhobenen Vorwürfe und Hinweise auf den Missbrauch öffentlicher Gelder, Betrug und Geldwäsche erscheinen mir konstruiert und ich bezweifle die Sachlage. Vielleicht ist dies ein Versuch die politische Opposition zu schwächen. Am Ende des Verfahrens wurde Julija Tymoschenko zu 7 Jahren Haft verurteilt. Im Gefängnis erlitt die Politikerin einen Bandscheibenvorfall, die medizinische Versorgung soll sehr schlecht sein. Den Medien zufolge hat sie starke Schmerzen. Ihre Anhänger protestieren für eine humanere Behandlung der Ministerpräsidentin und deren Freilassung.

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Das gleichmässige Melodie im Rattern der Zugräder auf den Gleisen wiegt mich in den Schlaf. Bei jedem kleinen Bremsen bewegt sich allerdings der gesamte Berg aus Plastikblumen und Getränken über mir ein winziges Stück auf mich zu. Kontinuierlich reißt mich dies aus meinem Halbschlaf. Wieder döse ich ein und wälze mich traumlos auf der unbequemen Pritsche hin und her. Ohne Vorwarnung und Anklopfen reißt jemand die Abteiltür auf. Ich schrecke hoch. Mein Arm bedeckt ruckartig das Gesicht gegen den grellen Schein der Lampe. Müde blinzle ich den ukrainischen Grenzbeamten an, dessen verschwommene Konturen sich langsam zu einem ganzen Umriss fügen. ‚Reisepass.‘ fordert er mich ohne Lächeln auf. Behäbig krame ich in meiner Tasche. Ich finde das Dokument und halte es zögerlich zur Tür. Immer wieder wechselt der Blickt des Mannes zwischen meinem Passbild und meinem verschlafenen Gesicht. Dann zieht er ein Vergrößerungsglas aus der Tasche seiner Uniformjacke und inspiziert angestrengt und genau mein Profil. Quälende Minuten vergehen bis er zufrieden ist und sich die Tür wieder schließt.

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Erleichtert sinke ich ins Kissen zurück und versuche weiter zu schlafen. Eine kurze Zeit nicke ich ein. Energisch wird die Abteiltür erneut aufgezogen. Abermals setze ich mich träge auf. Diesmal steht ein weißrussischer Beamter in der Türöffnung. Ich habe die Grenze in Richtung Minsk überquert. Wieder mustert man kritisch mein Gesicht. Ich kann nicht mehr einschlafen. Fast erwarte ich, dass die Tür nochmals aufgezogen wird. Doch nichts passiert. Dann klopft es zaghaft an die Abteiltür. Überrascht sehe ich auf. Legen die Grenzbeamten plötzlich Wert auf Manieren? ‚Ja.‘ sage ich müde, zu mehr reicht es nicht. Das Gesicht der Schaffnerin schiebt sich durch den Türspalt. In den Händen trägt sie eine Plastikbox, wie man diese bei Imbissen zum Mitnehmen erhält. ‚Hähnchen.‘ denke ich. Dankbar nehme ich mein Frühstück und lächle ihr zu. Im Plastikfach liegt ein paniertes Schnitzel, daneben türmt sich Reis. Ich nehme die Gurkenscheiben, die als Dekoration neben dem Fleisch liegen. Dann klappe ich die Box wieder zu. ‚Andere Länder, andere Sitten.‘ Das kann ich niemals zum Frühstück essen.


3 Gedanken zu “Hähnchen oder Fisch?

    1. Das stimmt. 🙂 Ich dachte, ich schau es mir einfach mal an. Vor ein paar Jahren haben ich eine Europareise gemacht, da passten Minsk und Kiew ganz gut in den Reiseplan. Man muss es aber eigentlich nicht unbedingt gesehen haben: 🙂 LG

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      1. Seit einiger Zeit spiele ich auch mit dem Gedanken, nach Weißrussland zu reisen. Es ist ein noch völlig unerschlossenes Land, über das man hierzulande nicht wirklich weiß, ich finde sowas immer total spannend 🙂
        Lg

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